Logarithmus und Sinneswahrnehmung
gedruckt am 15. Jan. 2025
Der Logarithmus wurde im 16. Jahrhundert von Musikern und Musiktheoretikern auf der Suche nach einer geeigneten Aufteilung des Oktavraumes (temperierte Stimmung) und bei der Analyse akustischer Phänomene gefunden. Dabei wurde entdeckt, dass wir mit unseren Sinnesorganen nicht die physikalischen Reize, sondern die Logarithmen akustischer Erscheinungen (Tonhöhe, Lautstärke, aber auch: Lichtstärke) wahrnehmen:
Die Entdeckung des Logarithmus liegt in einer Reihe folgenschwerer Entdeckungen: Auch mit dem kopernikanischen Planetenmodell zeigt die Wissenschaft, dass wir die Welt nicht so wahrnehmen, wie sie ist, wir müssen also unserer Sinneswahrnehmung mißtrauen und die Welt gegen die Sinne denkend neu konstruieren.
Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk formuliert das sehr plastisch:
„Durch den kopernikanischen Schock wird uns demonstriert, daß wir die Welt nicht sehen, wie sie ist, sondern daß wir ihre „Wirklichkeit“ gegen den Eindruck der Sinne denkend vorstellen müssen, um zu „begreifen“, was mit ihr der Fall ist. Da liegt das Dilemma: wenn die Sonne aufgeht, geht nicht die Sonne auf. Was die Augen sehen und was der astrophysisch informierte Verstand vorstellt, kann nicht mehr miteinander zur Deckung kommen. …
Das Merkwürdige an der kopernikanischen Aufklärung ist ja: auch wenn wir wissen, daß wir es mit der Erdumdrehung zu tun haben, sehen wir, sofern wir früh genug auf sind, auch nach Kopernikus den Sonnenaufgang in seiner archaischen Schönheit und erhabenen Ereignishaftigkeit. …
Wenn es wahr ist, daß wir Wahrheit über die Welt nicht in dem finden, was wir in urpassiver Wahrnehmungseinstellung von ihr sehen, hören und fühlen, sondern daß wir sie jenseits der Sinneszeugnisse vorstellen und wie eine ontologische Geheimschrift „lesen“ müssen, dann liegt es im Wesen dieser Wahrheit, daß wir uns an ihr schwindlig denken. Wem nicht schwindlig ist, der ist nicht informiert. Je mehr man von kopernikanischen „Wahrheiten“ weiß, desto schwindliger wird einem – von dieser Regel dürfte es wenige Ausnahmen geben.“
(Zitate aus: Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, edition suhrkamp, 1987)